Reaktivierung?
Wenn Fachleute davon sprechen, Schienenstrecken zu reaktivieren, dann hat das nichts damit zu tun, altgediente Kolleg*innen aus dem Ruhestand zurückzuholen oder angestaubte Geräte wieder in Betrieb zu nehmen. Stattdessen geht es darum, regelmäßige werktägliche Bahnverbindungen für den Personenverkehr wiederherzustellen, die schon einmal existierten, aber aus verschiedenen Gründen eingestellt worden waren, und damit das System Eisenbahn insgesamt wieder modern und konkurrenzfähig zu machen.
Die neue Mobilitätsachse auf der TWE-Strecke zwischen Harsewinkel und Verl
Das Schienennetz in Deutschland unterliegt ständiger Veränderung. Seine größte Ausdehnung wies es um das Jahr 1915 auf, als die Strecken aller Eisenbahngesellschaften insgesamt mehr als 60.000 Kilometer maßen1 . Das wiedervereinigte Deutschland startete immer noch mit rund 42.000 Kilometern Schiene, die aber spätestens ab der Bahnreform im Jahr 1994 Stück für Stück der Rationalisierung und Privatisierung zum Opfer fielen — rund ein Fünftel verschwand bis zum Jahr 20182 . Gleichzeitig bemühten sich aber verschiedene Akteure um den Erhalt oder die Wiederinbetriebnahme von Strecken, an denen andere das Interesse verloren hatten. Ein sehr erfolgreiches Beispiel bietet die Usedomer Bäderbahn (Mecklenburg-Vorpommern): Noch im Jahr 1993 drohte die Stilllegung, bis zum Jahr 2009 konnte sie ihre Fahrgastzahlen mehr als verzehnfachen3 . Doch der Überflieger fährt in Nordrhein-Westfalen: Die Regiobahn zwischen Kaarst und Mettmann steigerte ihre Fahrgastzahlen innerhalb von elf Jahren um mehr als 3.700 Prozent 4 . Wer eine Bahnstrecke für den Personenverkehr reaktiviert, spielt also nicht mit dem Zufall, sondern plant den beinahe sicheren Erfolg. Der Allianz pro Schiene e. V. und der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen schätzen, dass in Deutschland allein 291 Städte und Gemeinden und damit rund drei Millionen Menschen zusätzlich von einem Bahnanschluss profitieren könnten5 , und mit ihnen die Lebensqualität, die Umwelt und das Klima. In einem großen Teil davon liegen heute sogar noch die Gleise früherer Bahnverbindungen.
So wie in Harsewinkel und Verl.
Über die Schienen der TWE — Teutoburger Wald-Eisenbahn — rollten zuletzt nur noch Güterbahnen. Die Wiederaufnahme des Personenverkehrs über Gütersloh verspricht nicht nur schnelle Verbindungen zwischen den Haltepunkten, sondern auch eine verbesserte Verknüpfung von Verkehrsmitteln des Umweltverbunds untereinander. Deshalb heißt das Reaktivierungsprojekt hier auch „Mobilitätsachse“: Bahnfahren bleibt im 21. Jahrhundert längst kein isoliertes Geschäftsmodell mehr, sondern es trägt und stärkt die vernetzte und verknüpfte Mobilität in die ganze Region hinein. Dafür sorgen nicht nur angepasste und verbesserte Buskonzepte. An Mobilstationen soll es außerdem möglich werden, spontan und je nach Bedarf bzw. Verfügbarkeit zwischen Bahn, Bus, Fußweg, (Miet-)Fahrrad, (Miet-)Roller und (Miet-)Auto zu wechseln. Die Schienenstrecke wird dafür modernisiert und mit Leit- und Sicherungsanlagen gemäß dem Stand der Technik ausgestattet. Um ein zügiges Tempo und damit kurze Reisezeiten zu gewährleisten, werden die Bahnübergänge technisch gesichert.
Das Land Nordrhein-Westfalen zählt zu den Spitzenreitern bei der Reaktivierung von Schienenstrecken. Laut einem Atlas des Allianz pro Schiene e. V.6 wurden hier rund 16 Prozent der seit 1994 reaktivierten 933 Schienenkilometer wieder in Betrieb genommen, mehr gab es nur in Baden-Württemberg. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen nennt in einer aktuellen Broschüre7 vielfältige Gründe dafür, weshalb sich eine Reaktivierung lohnt: So können auch kurze Streckenabschnitte bestehende Bahnverbindungen erweitern, bislang nicht an den Schienenverkehr angeschlossene Ortschaften anbinden, bislang schlecht mit ÖPNV versorgte Regionen erschließen, Hauptstrecken im Schienennetz entlasten und die Stabilität des Schienennetzes insgesamt erhöhen. Die Mobilitätsachse Harsewinkel — Gütersloh — Verl findet sich also in guter Gesellschaft. Sie verbindet nicht nur die neun Haltepunkte miteinander, sondern ermöglicht das Umsteigen auf viele andere Bahnverbindungen im Bahnhof Gütersloh und stärkt damit den Bahnverkehr und den Umweltverbund insgesamt — die Alternative zum Automobil für eine echte Mobilitätswende und gegen Klimawandel, Feinstaub, Lärm und Flächenfraß.
Übrigens: Laut dem Heimat-Jahrbuch des Kreises Gütersloh aus dem Jahr 2015 besuchte die britische Königin Elisabeth II. im Jahr 1965 den damaligen Standort der Royal Air Force in Gütersloh, den heutigen Flughafen Gütersloh: in einem Sonderzug der Teutoburger Wald-Eisenbahn8 .
Wie gehts weiter?
Wenn Sie wissen möchten, wie die aktuelle Entwicklung aussieht, bieten wir Ihnen alle Informationen aus erster Hand auf der offiziellen Website:
Mobil in HGV
1 www.forschungsinformationssystem.de/servlet/is/350049/
2 ebd.
3 s1-bim.at/PDF/oeffVehrkehr/2009-09-10_Pressetext%20Austria2.pdf
4 ebd.
5 www.spiegel.de/auto/bahn-reaktivierte-bahnstrecken-koennten-drei-millionen-buerger-an-die-schiene-anschliessen-a-824fccff-7cc3-4a7e-a746-15b1f9a47bdc
6 www.allianz-pro-schiene.de/wp-content/uploads/2020/07/200709_%C3%9Cbersichtskarte_reaktivierte-eisenbahnstrecken.pdf
7 www.vdv.de/reaktivierung-von-eisenbahnstrecken-2020.pdfx, Seiten 13 und 14
8 de.wikipedia.org/wiki/Teutoburger_Wald-Eisenbahn